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Am nächsten Morgen beschließe ich, in Bremen nach zwei Wochen den ersten Ruhetag meiner Tour einzulegen. Über den Radfernweg Bremen-Hamburg rolle ich am nächsten Morgen weiter in Richtung Hamburg. Unterwegs merke ich, dass der Steg meines Fischerschuhs in der Rottefella-Bindung (NNN) nach jedem Abdruck vom Roller enormes seitliches Spiel hat, sodass ich auf dem Profil des hinteren Bindungsteils manchmal versetzt auftreffe. Ich hole mir Ratschläge zur Reparatur, aber ein Wechsel der Bindung ist wohl unvermeidbar. Na großartig! Wo soll ich denn hier in der norddeutschen Pampa nun eine passende Bindung herbekommen? Kurz zusammengefasst: Ich habe verdammt großes Glück. Von Wettkämpfen kenne ich einen Hamburger, der zufällig noch eine neue NNN-Bindung bei sich zuhause rumliegen hat. Also, auf geht’s nach Hamburg zum Boxenstopp!
Ich lasse mich per Komoot auf dem kürzesten Weg nach Hamburg leiten. Über das riesige Hafengelände erreiche ich schließlich den alten Elbtunnel, der mich unterirdisch auf einer Länge von über 400 Metern auf die andere Seite der Elbe bringt… Sicherlich eines meiner Strecken-Highlights… Nun stehe ich schon in St. Pauli und rolle über die Landungsbrücken sowie überlaufene Fußgängerwege ins Zentrum von Hamburg. Hier bekomme ich eine neue Xcelerator 2.0-Bindung. Da ich eine ähnliche Bindung mit NIS-Bindungsplatte laufe, geht der Austausch kinderleicht… Ich wechsle noch schnell auf die harten Flexoren, und dann geht es auch schon wieder raus „aus dem Boxenstopp“ auf die Rennstrecke. Läuft doch alles bestens!
Ohne Sightseeing-Pause verlasse ich bald darauf Hamburg und folge der Elbe flussabwärts. Über Glücksstadt und Brunsbüttel geht es schließlich in den Landkreis Dithmarschen, wo es laut Medien vermehrt Corona-Infektionen geben würde. Also rolle ich zügig ohne Stopp weiter, und erreiche kurz vor Büsum die Nordsee. Hier bin ich nun auf nicht endenden Deichwegen dem Schafskot, Deichverschmutzungen und dem starken Gegenwind hoffnungslos ausgesetzt. Hinter Husum zelte ich direkt an der Nordseeküste und genieße den Sonnenuntergang am Wattenmeer. Traumhaft… Nun bin ich bis in die Haarspitzen motiviert, am nächsten Tag die Insel Sylt zu erreichen.
Pustekuchen! Ich bin gerade auf der Nordseehalbinsel Nordstrand unterwegs, als ich plötzlich mit meinem linken Stock keinen Gripp mehr auf dem Asphalt habe. Naja, da ist wohl die LEKI-Spitze abgebrochen.
Aber weit gefehlt! Der Stock ist ab! Beim Zuschlagen eines der vielen Schafgitter muss ich wohl meinen LEKI-HRC-Weltcupstock nicht rechtzeitig „mitgezogen“ haben. Ich versuche zunächst, die Bruchstelle mit Panzertape zu umwickeln, dann die beiden Stockteile mit einem Stift im Inneren bzw. mit einem außen aufgeschobenen Aluminiumrohr mit Heißkleber zu verbinden. Es hält. Naja, nicht wirklich. Nach 500 Meter Kopfsteinpflaster ist der Stock auch schon wieder abgerissen. Ich frage bei Sportgeschäften nach, doch niemand hat hier im Norden Langlaufstöcke auf Lager, und der Internetversand dauert bekanntlich ewig. Ich fahre vorerst also mit nur einem Stock in der Hand weiter… Dank der LEKI-Griffe und der Trigger-Shark-Schlaufen kann ich den Stock immer wieder auf die andere Armseite wechseln, aber schon nach eineinhalb Stunden mit einem Stock in der Hand, und weiterhin mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken, bin ich fix und fertig.
Ich bin kurz zuvor, mir von zuhause einen meiner anderen Stöcke per Sperrgutversand schicken zu lassen, als ich von einem Trainer bei St.-Peter-Ording erfahre, der Kurse auf Cross-Skates anbietet und mir einen einzelnen SWIX-Alu-Stock anbieten könnte. Also fahre ich dort hin, montiere meine LEKI-Griffe auf den SWIX-Stock, und wechsle die Spitze. Es ist bereits stockdunkel, als ich dort auf einem Acker mein Zelt aufschlage und mich frage: Werde ich mit den zwei unterschiedlich schweren Stöcken in den nächsten Tagen zurechtkommen? Werde ich morgen Sylt erreichen? Wie weit werde ich überhaupt kommen?
Oh Gott, an diesen einzelnen Aluminiumstock muss ich mich erstmal gewöhnen… Entlang von asphaltieren sowie betonierten, eintönigen Dammwegen erreiche ich in der Mittagszeit schließlich Dagebüll, woraufhin ich die unmittelbare Nordseeküste und den Nordseeküstenradweg verlasse. Denn ich muss ins einige Kilometer entfernte Niebüll rollen, von wo aus mich der Regionalzug über den nicht begehbaren Hindenburgdamm nach Sylt bringen wird. Angekommen auf der Insel, steige ich an der ersten Station in Morsum aus, rolle zu dem bekannten Morsum-Kliff, und laufe anschließend in hohem Tempo durch die Insellandschaft nach Wenningstedt. Hier übernachte ich an einem offiziellen Zeltplatz zwischen den Dünen und gehe am nächsten Morgen zu früher Uhrzeit am menschenleeren Strand laufen. Anschließend nehme ich die letzten 20 Kilometer bis zum nördlichsten Punkt Deutschlands in Angriff. Mit einer ordentlichen Portion Rückenwind erreiche ich Top-Geschwindigkeiten, und nach einer kleinen Diskussion mit einer Mautstellen-Kassiererin laufe ich vorsichtshalber ein paar Meter zu Fuß weiter, gebe dann aber nochmal Vollgas auf den Rollern und erreiche schließlich den Ellenbogen auf Sylt. Ich springe ins Meer, lasse mich treiben, und genieße den Moment. Ich habe mein ursprüngliches Ziel erreicht! Ich bin im Süden gestartet, und bin ganz im Norden angekommen. Aber ich will weiter! Jetzt heißt es wohl „umkehren“ in Richtung Süden, und schauen, wie lange ich die Belastung noch aushalte. Mir bleibt noch knapp eine Woche Zeit.
Ich rolle zurück nach Westerland, lasse das von Touristen überlaufene Sylt hinter mir und laufe nach Flensburg an die Ostsee. Unterwegs zelte ich wieder ganz allein im Wald nahe der dänischen Grenze, die Schnaken stechen mich, leider gibt es hier wie so oft keine Möglichkeit zu duschen, Internetempfang gibt’s natürlich auch nicht. Übrigens: ich mache hier nichts Illegales, in Schleswig-Holstein ist Wildcampen für „nicht motorisierte“ Reisende erlaubt, und ansonsten kann man zuvor immer höflich nachfragen, ob man irgendwo sein Zelt hinstellen darf! Und wenn man seinen Müll wieder mitnimmt, und respektvoll in und mit der Natur lebt, ist das absolut kein Problem!
Entlang des Ostseeradweges rolle ich über Glücksburg in Richtung Kiel, doch unterwegs hat mein luftbereifter Reifen plötzlich einen Platten. Ich tausche ihn mit meinem Ersatzreifen und kontrolliere im neuen Reifen den Druck, den ich auf knapp 8 Bar erhöhe. Da macht es PEEEENG und der Schlauch verliert Luft. Das läuft ja alles wunderbar, einen weiteren Ersatzschlauch habe ich nicht dabei. Ich repariere die Verbindungsstelle zwischen Ventil und Schlauch notdürftig mit Flickzeug und Kabelbindern, um noch irgendwie auf vier Rädern vorwärts zu kommen. Nach weiteren 17 Kilometern beziehe hinter einem Deich an der Ostsee an einem ruhigen Platz in der Wildnis mein Schlafquartier. Ich muss schauen, woher ich morgen früh einen neuen Schlauch bekomme… Immerhin kann ich in der Ostsee endlich mal wieder „duschen“, ich wasche zwischen den Algen im Meer meine Sportwäsche und koche Nudeln.
Nach der langen Suche nach einem Ersatzschlauch, und etlichen Kilometern Doppelstockschub mit einem platten Vorderrad, bekomme ich von einer Sportlerin einen Schlauch, ich tausche den Schlauch aus und kann wieder durchatmen. Über Kappeln, das Ufer der Schlei und die Hafenstadt Eckernförde geht es in die nächste Landeshauptstadt Kiel. Auf dem weiteren Weg habe ich viele Steigungen zu überwinden, bevor ich schließlich das Holstentor in Lübeck erreiche. Beim Blick auf die Landkarte wird mir bewusst, wie weit ich inzwischen wieder von Sylt entfernt bin. Ursprünglich wollte ich, wie bereits erwähnt, nur Sylt erreichen und somit einmal komplett Deutschland durchqueren. Ich hatte bereits im Vorfeld ein Zugticket ab Sylt gebucht, und habe nun die Möglichkeit, in Hamburg zuzusteigen. Also rolle ich von Lübeck aus in einer weiteren kräftezehrenden Tagesetappe zurück nach Hamburg- genauer gesagt, einmal durch die ganze Metropole hindurch, von Ost nach West…
Inzwischen sehne ich mich nach einem Ende der Tour: Ich habe starke Schmerzen im Schulterbereich, die Oberarme brennen, die Füße schmerzen, die Knie zittern. Ich kann nicht mehr. Ich bin fix und fertig.
Aber beendet man auf diese Art eine Tour? Ich bin ein klein wenig traurig, weil ich kein richtiges „Endziel“ hatte. Ich bin zwar jetzt wieder in Hamburg, aber da war ich ja vor ein paar Tagen schonmal… Ich bin tatsächlich einen großen Kreis über Nord- und Ostsee gefahren…
Im Zug fällt schließlich die spontane Entscheidung: Ich will weiter laufen! Ich steige unterwegs einfach aus dem ICE aus und fahre eben nicht mit dem Zug heim. Stattdessen schnalle ich wieder die Cross-Rollski unter die Füße und rolle noch etliche Kilometer auf mir bekannten Strecken und Wegen nach Hause. Die letzten 35km meiner Deutschlandtour fühlen sich äußerst surreal an, ich bin die Strecke bei Donauwörth schon so oft gerollert, aber noch nie schossen mir dabei so viele Gedanken durch den Kopf. Ich fasse es nicht, dass ich es geschafft habe. Ich habe ganz Deutschland durchquert!!! Unzählige Male habe ich meine eigenen körperlichen (und psychischen) Grenzen überschritten, ich habe mich gequält, habe die Zähne zusammengebissen, nicht aufgegeben und gekämpft. Danke an alle, die mich, in welcher Art auch immer, auf meinem Weg unterstützt haben! Danke an alle, die an mich geglaubt haben! Ich! HABS! GESCHAFFT!
Vielleicht ist dem ein oder anderen Sportler nun der Gedanke gekommen: „Krass, das will ich auch mal ausprobieren!“ Auch wenn ich auf dieser vorgestellten Tour sehr viele Materialprobleme hatte, kann ich euch eine solche Tour nur wärmstens empfehlen. Mich prägen vor allem die Begegnungen unterwegs, die Idee des minimalistischen Lebensstils, das langsame Reisen, bei dem man jeden Meter des Weges auf vier Rollen wahrnimmt, natürlich die Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit des Reisens, das naturverbundene Leben, die Suche nach den persönlichen Grenzen, und all die positiven sowie negativen Erlebnisse. Eines kann ich ganz sicher sagen: Wenn man auf der Straße ist, hat man schon einen großen Teil geschafft. Wille und Motivation sind meiner Meinung nach ausschlaggebend, ob man bei einer solchen Tour Erfolg hat. Nicht etwa der Leistungsstand! Die standardmäßige Behauptung „Das schaffe ich nie“, ist der falsche Ansatz. Doch viele fragen mich trotzdem: Wie schafft man das dann? Ich habe lange Zeit überlegt, doch die Antwort ist im Grunde genommen ganz einfach:
Das Geheimnis des Erfolgs ist anzufangen. (Mark Twain)